Buchrezension: «Dankbarkeit» von Oliver Sacks

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Heidrun West

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«Ich habe den Tod vor Augen, aber mit dem Leben noch nicht abgeschlossen.» Mit diesen Worten eröffnet Oliver Sacks das handliche Kleinod eingepackt in dunkelblauen Stoff mit silberner Schrift. Verfasst, als er schon von Alter, Krankheit und Tod gezeichnet war, gelingt ihm ein kleines Werk von schwebender Leichtigkeit.

Oliver Sacks | Quelle: Alamy

Erstaunlich, diese Leichtigkeit des Abschieds. Dankbar, soviel erlebt zu haben, empfand er keine Verengung, sondern eine Ausweitung des geistigen Horizonts. Ein geschärftes Bewusstsein für Vergänglichkeit und Schönheit. Es ist diese Konzentration auf das, was sein Leben ausmacht, die er mit uns teilt in seinem Buch. Seine Sprache ist direkt, unumwunden; als sässen wir ihm gegenüber. Die Reihenfolge der vier Essays – Quecksilber, Mein Leben, Mein Periodensystem und Sabbat – entspricht der Reihenfolge, in der sie verfasst wurden. Ersteres erschien 2013, die letzten drei innerhalb eines knappen halben Jahres vor seinem Tod im August 2015.

Ausgebildet als Neurologe, wurde Sacks bekannt als Arzt der Vergessenen und Ausgesetzten. Nach dem Studium trieb ihn ein Mangel an einem tieferen Bezug in eine fast selbstmörderische Amphetaminsucht. Erst die Tätigkeit in einem Pflegeheim in New York gab seinem Leben den nötigen Sinn. «Ich war von meinen Patienten dort fasziniert, nahm grossen Anteil an ihnen und empfand es als eine Art höherer Pflicht, ihre Geschichten zu erzählen – Geschichten über Schicksale, die für die breite Öffentlichkeit vollkommen neu und fast unvorstellbar waren. Ich hatte meine Berufung gefunden

Sein vorrangiges Interesse aber galt zeitlebens den exakten Naturwissenschaften, wie wir in Quecksilber und Mein Periodensystem erfahren. Zahlen wurden ihm schon als Sechsjährigen zu Freunden, als er kriegsbedingt von seiner Familie getrennt in einem Internat aufwuchs. «Seit Kindertagen neige ich dazu, Verlust zu bewältigen, indem ich mich auf die nichtmenschliche Welt konzentriere – eine Welt, in der es kein Leben gibt, aber auch keinen Tod

“Vor allem aber war ich ein fühlendes Wesen, ein denkendes Tier auf diesem schönen Planeten, und schon das allein war ein wunderbares Privileg und Abenteuer.” — Oliver Sacks

So sah er stets dem Erscheinen von Zeitschriften wie Science und Nature «eifrig, fast ungeduldig» entgegen. Nur in diesem Zusammenhang fliesst Bedauern ein, dass er die Fortschritte und Erkenntnisse der Wissenschaft nicht mehr erleben wird.

In Mein Leben stellt er sich dem erwarteten Tod. Er entschied sich bewusst, seine letzten Monate sollten «denkbar erfüllte, kostbare, produktive Monate sein.»

Es galt, Freundschaften zu vertiefen, Lebewohl zu sagen, mit der Welt und den Menschen ins Reine zu kommen, aber auch Zeit für Spass zu haben. Trotz Furcht überwiegt Dankbarkeit. «Vor allem aber war ich ein fühlendes Wesen, ein denkendes Tier auf diesem schönen Planeten, und schon das allein war ein wunderbares Privileg und Abenteuer

Berührend im Schlussessay Sabbat ist die Rückbesinnung auf orthodoxe Werte, denen er den Rücken gekehrt hatte. Als er mit 18 seine Vorliebe für Jungs zugab, reagierte seine Mutter mit Worten aus dem Buch Mose, 'du bist ein Gräuel. – Ich wünschte, du wärest nie geboren.' «Dieses Urteil», so Oliver Sacks, «flösste mir eine tiefe Abneigung gegen jegliche Form religiöser Engstirnigkeit und Grausamkeit ein.» So kehrte er nach seiner Promotion seiner Familie und der Gemeinschaft abrupt den Rücken. Erst die Geburtstagsfeier seiner 100-jährigen Cousine in Israel gab ihm nicht nur die Geborgenheit in seiner Familie zurück, sondern auch die Akzeptanz  seines Liebhabers. In seiner Autobiographie ON THE MOVE, verfasst in seinem letzten Lebensjahr, konnte er sich zum ersten Mal in seinem Leben offen und frei zu seiner Sexualität bekennen.

Er schliesst sein Buch mit den Worten: «Mir kommt der Sabbat in den Sinn, der Tag der Ruhe, der siebte Tag der Woche, vielleicht auch der siebte Tag des eigenen Lebens, der einem das Gefühl gibt, man habe seine Arbeit getan und dürfte nun guten Gewissens ruhen

DANKBARKEIT liest sich wie ein seidener Faden ins Jenseits.

Heidrun West ist pensionierte Englischlehrerin. Sie hat in den USA studiert und lernte dort die Schriften von Oliver Sacks kennen. Sie hat in diversen Publikationen Kurzgeschichten und Zeitungsartikel veröffentlicht und ist passionierte Gärtnerin von Pflanzen und Menschen.

 

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